Menschliche Handlungsfähigkeit in mathematischen Modellen für die Geoanthropologie

In vielen komplexen Systemen, wie z. B. in der Physik, der Ökologie, dem Finanzwesen oder der Geschichte, wechseln sich Phasen relativ stabiler Zustände oft mit raschen Veränderungen wie unter Anderem Phasenübergängen, Revolutionen, dem Auftreten oder Aussterben von Arten ab. Die Physik wie auch zum Beispiel die klassische Wirtschaftswissenschaft (die Konzepte aus der Physik übernimmt) neigen dazu, diese stabilen Zustände als Gleichgewichte zu betrachten, d. h. als das Ergebnis eines Optimierungsprozesses. Aus Sicht der Evolutionstheorie gibt es keine Gleichgewichte in diesem Sinne, da die stochastischen Prozesse und Rückkopplungen der Evolution eine kontinuierliche Entwicklung darstellen; allerdings wechseln sich auch im Fossilbericht stabile Phasen von Populationen mit wenig evolutionären Veränderungen mit Phasen relativ schneller Verzweigungen von Arten ab; dies wurde von Eldrege und Gould in der Theorie der punktuellen Gleichgewichte beschrieben. Sehr ähnliche Konzepte wie das der punktierten Gleichgewichte finden sich in der politischen Theorie und in der Geschichte, wo die Phasen des schnellen Wandels oft als kritische Punkte bezeichnet werden. Während es in der Physik umfassende mathematische Beschreibungen für das dynamische Verhalten physikalischer Systeme zwischen Gleichgewichten gibt, wurde eine Theorie der kritischen Wendepunkte bisher nicht mathematisch dargestellt.

Relevanz für die Geoanthropologie

Das Konzept der kritischen Wendepunkte in der Geschichte wird gewöhnlich für die Vorstellung verwendet, dass Perioden mit starken Institutionen relativ stabil sind. An einem kritischen Punkt werden Institutionen jedoch schwach oder lösen sich auf, und das menschliche Handeln von Einzelpersonen oder Gruppen hat einen viel größeren Einfluss auf den zukünftigen Verlauf der Geschichte als in den Zeiten dazwischen; man geht davon aus, dass die Anzahl der Optionen für mögliche Fortsetzungen in diesen Zeiten erhöht ist. Da der Mensch zu einem Faktor in der Evolution des Erdsystems geworden ist, bedeutet dies, dass Darstellungen des "menschlichen Handelns" in die Mensch-Erdsystem-Modellierung aufgenommen werden müssen. Einige daraus folgende Forschungsfragen sind:

  • Inwieweit können Methoden aus der Modellierung von Systemen in den Naturwissenschaften für die Modellierung sozial-technisch-ökologischer Systeme übernommen werden, wo liegen die Grenzen dieser Annäherungen?
  • Wie kann man eine mathematische Beschreibung der kritischen Punkte formulieren?
  • Können die Konzepte der punktuellen Gleichgewichte oder der kritischen Wendepunkte dazu beitragen, die Entwicklung zu erklären, die zum Anthropozän geführt hat?
  • Wie beeinflusst die Modellierung möglicher Zukunftsszenarien die getroffenen Entscheidungen und damit möglicherweise den Verlauf des Systems?

Unsere Herangehensweise an die Forschungsfragen

Es gibt keine breite und umfassende Verwendung von mathematisch formulierten Theorien für (Aspekte von) sozialen Systemen. Manchmal werden Konzepte aus anderen Bereichen verwendet, um bestimmte Phänomene zu beschreiben, wie z.B. das Konzept der Diffusion aus der Physik in Modellen der Meinungsdynamik. Aufgrund der Heterogenität von Akteurinnen und Akteuren und Interaktionen und des Fehlens allgemeiner Gesetze werden soziale Systeme oft eher simuliert als analysiert, wobei eine mathematisch geschlossene Formulierung ähnlich den Bewegungsgesetzen verwendet wird.

Simulationen werden häufig mit agentenbasierten Modellen (ABMs) durchgeführt. Diese Modelle gehen von Entscheidungsalgorithmen für ihre Mikroeinheiten, die "Agenten", aus und simulieren dann das Makroverhalten des Systems anhand dieser Regeln. Selbst für Systeme von sehr moderater Komplexität gibt es kein analytisches Verständnis dafür, wie das emergente Verhalten zustande kommt. Es ist jedoch klar, dass ABMs als stochastische Prozesse betrachtet werden können. Unser Ansatz zur Beantwortung der oben genannten Forschungsfragen zur Darstellung menschlichen Handelns in mathematischen Modellen geht daher von ABMs aus und behandelt Fragen wie:

  • Wie können wir die Simulationsergebnisse von ABMs analytisch besser verstehen? Wie können wir dadurch verstehen, welche strukturellen Merkmale schnelle Veränderungen auf der Makroebene fördern oder hemmen?
  • Wie können wir ein solches Verständnis nutzen, um möglicherweise Strukturen in den realen Systemen zu verändern oder zu gestalten, die Systeme besser stabilisieren oder z.B. bestimmte sozio-technische Übergänge fördern?
  • Wie können wir menschliche Entscheidungen und Handlungen in solchen Systemen in (agentenbasierten) Modellen besser darstellen und vielleicht auch die Auswirkungen der Vorstellung möglicher Zukünfte anhand von Modellvorhersagen auf die Entscheidungen der Akteure berücksichtigen?

Beziehung zu anderen Forschungsprojekten am MPI-GEA

Dieses Forschungsprojekt zielt darauf ab, grundlegende Veränderungen der Technosphäre auf analytische Weise zu verstehen und leistet einen Beitrag zum Aufbau koevolutiver, gekoppelter Mensch-Erde-System-Modelle.

Im Decision Theatre werden Modelle mit allen möglichen Interessengruppen diskutiert und weiterentwickelt. Die Beobachtung, wie die Teilnehmenden von Decision Theatre Veranstaltungen mit Modellszenarien interagieren, wird mehr Ideen darüber liefern, wie die Auswirkungen der Modellbildung für mögliche zukünftige Szenarien berücksichtigt werden können. Außerdem kann ein besseres Verständnis dafür, welche strukturellen Elemente von ABMs die Stabilität erhöhen oder den Wandel fördern, dazu beitragen, mögliche Interventionen (wie z. B. politische Maßnahmen) für diese Zwecke zu entwerfen. Dazu müssen die Modelle jedoch empirisch fundiert sein, was ebenfalls mit Hilfe des Decision Theatre besser erreicht werden kann.

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